#10G30T - 3. Veröffentlichung

Schutzengel

"Noch einen Schluck?" Daniel hob den Krug mit dem klaren Tauwasser etwas, in dem noch die Sonne glitzerte, die die Tropfen bei der Ernte zum Leuchten gebracht hatten.

Ammael nickte dankbar und schob sein Glas etwas näher. "Wie war dein Tag?"

Daniel seufzte. "Anstrengend, wie immer. Der Bengel lässt auch keine Gefahren aus." Dabei lächelte er seelig. 

Nur zu gut wusste Ammael, wie sehr Daniel die Kleinkindzeit genoss. Alle Hände voll zu tun, kaum einen Moment, um sich auszuruhen - da eine Katze, die das Kind mit seinen Patschehändchen am Hals in die Luft hielt, dort eine Kerze, die verlockend flackerte und mit einem Freudeschrei umgestossen wurde. Der Alltag war übervoll mit Gefahren. Und wenn der Herr das Kind rief, nahm er es freudig an der Hand und führte es in sein Zuhause.

"Wie geht es dir?", riss Daniel ihn aus seinen Gedanken.

Er senkte den Kopf. Seit Jahren tat er etwas, womit er schon lange hatte aufhören sollen.

"Du zeigst dich ihr immer noch?"

Traurig nickte er. "Sie will mich immer noch sehen." Jedenfalls redete er sich das ein. "Ich bin ihr immer noch wichtig, sie braucht mich noch."

"Natürlich braucht sie dich." Daniel beugte sich nach vorne und stützte sich auf der Tischplatte ab. "Du bist auch ihr Schutzengel, darum. Nur darum. Aber nicht so."

Ammael spürte den warnenden Blick seines Freundes nur zu deutlich. 

Wenn ein Engel liebt, dann für immer.

"Sie wird alt, Ammael, und sterben. Beende es, solange du noch kannst."

Dafür war es schon zu spät, und Ammael seufzte. "Ich weiss." Bloss, so einfach war es nicht. Genauso, wie sie sich jeden Tag auf das Gespräch mit ihm freute, sehnte er sich danach, ihre Stimme zu hören und ihr zu lauschen, wenn sie von ihrem Tag erzählte, ihre Augen leuchten zu sehen, sobald sie von ihrem Yogakurs zu sprechen begann.

Nie hatte sie ihren imaginären Freund losgelassen und so war Ammael geblieben. Mit ihrem zarten Glühen hatte sie sein Herz berührt, während er schützend seine Flügel über ihr ausgebreitet hatte und sie vor allem Leid und Schmerz zu beschützen versuchte.

Es war nur seine Aufgabe. Trotzdem fühlte Ammael sich geehrt, dass er sie begleiten durfte - vom ersten Moment im Mutterleib bis zu ihrem letzten Atemzug.

In einem Zug trank er sein Tauwasser leer und er erhob sich. "Ich muss los, sie ruft mich." Sein Herz tanzte vor Freude und er breitete seine strahlend weissen Schwingen aus.

Irgendwann würde auch er sie an der Hand nehmen. Bis dahin wollte er mit ihr durchs Leben tanzen.

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Kommentare: 2
  • #1

    Gabriele Helbig (Samstag, 10 Juni 2017 18:25)

    Dicht und anrührend geschrieben. Der Konflikt ist klar, mehr Worte braucht es nicht. Gefällt mir.

  • #2

    Andrea Ego (Montag, 12 Juni 2017 06:30)

    Liebe Gabriele

    Vielen Dank für deinen lieben Kommentar! Es freut mich sehr, dass dir die Geschichte gefällt. :)