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Writing Excuses Masterclass 10.4

Letzte Woche haben wir einen Charakter in eine horrormässige Situation gebracht (die mir nicht allzu sehr gelungen ist), nun interviewen wir fünf verschiedene Leute für den Job.

 

Job: Nebelhexe

Wir bieten: Selbstständiges Arbeiten in der Natur, Home Office und die für den Job modernste Infrastruktur.

Wir suchen: Schreckgestalt.

Eine junge Frau Anfang zwanzig tritt ein. Blonde, schulterlange Haare, grosse Augen. Ihr Blick huscht durch den Raum, als sie mit kleinen Schritten zum Besprechungstisch kommt. Sie wirkt, wie sie aussieht: zerbrechlich.

Ich: "Setzen Sie sich doch. Ein Glas Wasser?"

Sie nickt. "Gerne." Als sie den Stuhl nach hinten zieht, fürchte ich, dass sie daran zerbricht. Der Stuhl sieht viel zu schwer aus.

Ich schiebe ihr das Glas über den Tisch zu und weiss nicht, ob ich ihr einige Augenblicke Zeit geben soll, um anzukommen, oder ob ich lieber gleich beginne. Ich werfe einen Blick auf die Bewerbungsunterlagen. "Aisa Montmartre, ein ungewöhnlicher Name." Ich lächle, obwohl ich weiss, dass sie den Job sicher nicht machen wird.

Ihr Nicken wird fester. "Von meinem Vater." Sie sagt es nicht ohne Stolz.

Ich frage mich, wieso. Jeder übernimmt den Namen von seinem Vater. Na gut, fast jeder. Viele. "Wieso haben Sie sich für diese Stelle beworben?"

Wieder schaut sie sich im Raum um. "Sie haben mir gesagt, dass Sie eine Schreckgestalt suchen."

Nun gelingt mir mein Lächeln ehrlich, vermutlich aber auch herablassend. "Das müssen Sie mir genauer erklären." Ich gebe mir Mühe, keinen bissigen Kommentar abzugeben.

Ihre Nase wandert ein wenig in die Höhe, als sie das Kinn reckt und mich mit herausforderndem Funkeln mustert. "Glauben Sie mir, Frau Ego, die Schrecken, die ich heraufbeschwören kann, können Sie sich noch nicht einmal vorstellen."

Überrascht von der plötzlichen Sicherheit lehne ich mich zurück und mustere sie erneut. Sie ist hübsch, keine Frage. Der Schreckensjäger würde auf sie abfahren. Denke ich. Dennoch ... "Ich bin Autorin."

"Eben. Und ich bin eine Schreckgestalt."

Ich schliesse die Augen und fahre mir mit den Händen über das Gesicht. Diese Entscheidung wird schwieriger als gedacht. Sie will diesen Job. Und ich bin sicher, sie würde ihn verdammt gut machen.

Ich schaue auf den Lebenslauf. Amon Goldstein, ehemaliger israelischer Elitesoldat, fünfundvierzig Jahre alt. Anerkennend schwenke ich den Kopf hin und her. Er sieht gut aus. Wieso er sich wohl für die Stelle als Nebelhexe beworben hat?

Ein Klopfen reisst mich aus meinen Gedanken. Ich öffne die Tür. Bei seinem Anblick gefriert mir das Lächeln auf den Lippen. Schon auf dem Foto sieht er imposant aus, doch ich fürchte, dieser Kasten passt nicht quer durch die Tür.

Wider Erwarten schafft er es doch.

"Guten Tag, Herr Goldstein. Ich freue mich, Sie hier begrüssen zu dürfen."

Er nickt. Ich warte. Er schweigt.

Ich neige den Kopf etwas zur Seite, doch er reagiert nicht. Also ist es wohl an mir, das Gespräch zu führen. "Ich war überrascht, dass Sie sich für die Stelle als Nebelhexe beworben haben."

"Wieso?" Seine Stimme klingt tiefer, als ich es bei einer Stimme je für möglich gehalten hatte.

"Nun, es ist eine Nebelhexe, die gesucht wird. Warum sollte ich gerade Sie einstellen?"

Er mustert mich, als würde er die Frage nicht verstehen oder sie so beleidigend sein, dass ich mir Sorgen um meine Gesundheit machen muss. Knochenbrüche oder so. Ich bin mir sicher, dass er es mit einer Hand schaffen würde, meine Rippen zu brechen. Mit der zweiten würde er sich meinen Kopf vornehmen.

Er faltet die Hände, beugt sich nach vorn und fixiert mich mit einem Blick, der mir einen kalten Schauer über den Rücken jagt. Seine Augen verengen sich ein Stück. Schweissausbruch. Was soll das? Ich senke den Blick auf den Notizblock und tue so, als würde ich etwas aufschreiben, doch in Wahrheit konzentriere ich mich nur auf meine Atmung. Sie beruhigt sich nicht, kein bisschen.

Als ich ihn wieder ansehe, trägt er ein zufriedenes Grinsen im Gesicht. "Wissen Sie jetzt, warum?"

Ich nicke.

Kopfschmerzen. Es ist anstrengend, an einem Tag fünf Bewerbungsgespräche zu führen. Trotzdem, es ist notwendig.

Ohne zu klopfen, tritt ein Mann Anfang dreissig ein. Am auffallendsten sind seine Haare, die in alle Himmelsrichtungen abstehen. Ich weiss noch immer nicht, wieso ich ihn eingeladen habe. Absolut nichts passt zu der ausgeschriebenen Stelle.

"Guten Tag, Herr Krex. Nehmen Sie doch Platz." Ich unterdrücke ein Seufzen, um meine Ungeduld zu verbergen. Ich habe wenig Lust, ihn zu interviewen, weil er so wenig zu diesem Job passt wie ich.

"Danke. Es freut mich sehr, dass ich mich vorstellen darf. Ganz ehrlich, damit habe ich nicht gerechnet." Er zwinkert mir zu.

"Ich auch nicht", gebe ich zu, bevor ich darüber nachdenken kann.

Er grinst. Sein Verhalten ist nicht gerade das, was ich von einem Bewerber erwartet habe. Wobei bisher alle ziemlich selbstsicher aufgetreten sind.

"Also", beginne ich, um die Pause nicht noch unangenehmer zu machen. "Was ist für Sie so speziell daran, die Nebelhexe zu sein."

"Noch bin ich es ja nicht." Sein Grinsen bringt mich nächstens auf die Palme.

Ich bemühe mich um eine ruhige Fassade. "Wenn Sie es wären."

"Hm." Er lehnt sich nach hinten und faltet die Hände hinter dem Kopf. Dabei legt er die Füsse auf den Tisch und sein Blick wandert an die Decke. "Ich glaube, ich würde die Einsamkeit geniessen. Entschleunigen, mich von den Fesseln dieser Welt lösen. Das klingt doch toll."

Mein Augenlid zuckt. "Raus."

Er lacht.

Ich stehe auf und haue auf den Tisch. "Raus hier!"

Wieder lacht er, diesmal aber weniger selbstsicher, und schliesslich packt der freche Hagel seine Tasche und rauscht aus dem Zimmer.

Die nächste Bewerberin ist noch jung, ein Kind mit weissblonden, sorgfältig zurechtgestutzten Haaren. Ihre Haut scheint wie durchschimmerndes Porzellan, wie ein Hauch von Eis über einem Labyrinth aus Adern, Sehnen und Muskeln. Von letzterem allerdings nicht allzu viel.

Unweigerlich lächle ich, als sie eintritt und den Blick hebt. Im Gegensatz zu ihrer Erscheinung sind die Augen dunkel. Teuflisch dunkel. Dennoch leuchtet in ihnen ein Licht, das mich vollkommen in den Bann zieht.

"Komm, setz dich." Ich kann sie einfach nicht siezen, dafür ist sie zu einfach, zu zerbrechlich. "Möchtest du etwas trinken?"

Sie schüttelt den Kopf und starrt auf die Tischplatte.

Vorsichtig, als würden meine Schritte sie sonst erschrecken, gehe ich um den Tisch herum und nehme auf meinem Stuhl Platz. Ich nehme mir einige Momente, ihre schmächtige Gestalt zu betrachten. Ich glaube, sie zittert, aber ich kann mich auch täuschen. "Warum bist du hier?"

Unter den Fransen hindurch wirft sie mir einen flüchtigen Blick zu. "Weil ich muss. Mama hat es gesagt."

Eine Mutter, die ihr Kind schickt, um einen Job als Nebelhexe zu ergattern, obwohl klar ist, dass es an der Aufgabe zerbrechen wird? "Wieso hat sie es denn gesagt?"

Sie zuckt mit den Schultern. "Weil ich schlecht bin."

"Aber sicher nicht!" Ich kann nicht glauben, dass jemand so herzlos sein kann und seinem Kind sagt, dass es schlecht ist. "Ich bin sicher, du hast ganz viele wunderbare Talente. Was machst du denn gern?"

"Katzen töten und ihnen die Eingeweide herausreissen. Manchmal auch in umgekehrter Reihenfolge."

Mein Blick schnellt zu ihren Händen. Die sind viel zu zart, um einem Tier so etwas anzutun! Ich schlucke meine aufsteigende Galle hinunter und bin froh, nicht gerade gegessen zu haben.

"Manchmal mache ich das mit den Lämmern. Aber dann wird Mama ganz wütend. Deshalb nehme ich die Katzen." Sie schenkt mir ein herzliches Lächeln, als wäre das alles für sie normal.

Ich zittere. "Ja. Klar." Nein, absolut nicht. "Was macht dir denn daran so viel Spass?"

Sie lacht leise, als würde sie sich freuen, dass jemand ihren Ausführungen lauscht. Ich wäre am liebsten davongerannt. "Es ist so warm und weich, wenn ich hineinfasse. Ich fühle mich lebendig. Am aufregendsten finde ich es, wenn es ein trächtiges Weibchen ist."

Ich springe auf und knalle mit den Kniehöhlen gegen die Stuhlkante, sodass er nach hinten geschoben wird. "Ich habe genug gehört. Du kannst gehen."

Ich atme tief durch. Das Mädchen hat mir den Rest gegeben. Ich weiss nicht einmal mehr ihren Namen, doch das muss ich auch nicht. Irgendwie. Sie wird nicht in Frage kommen. Das halte ich nicht aus. So eine abgrundtief böse Seele ... Ich schüttle den Kopf.

Ein Klopfen reisst mich aus meinen Gedanken, nur wenige Augenblicke später tritt eine Frau ein. Ihr schwarzes Haar scheint Schatten auf ihre ganze Gestalt zu werfen, die dunklen Augen ähneln denen des Mädchens, von dessen Besuch ich mich noch zu erholen versuche. Ein Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht, doch es ist kalt.

"Guten Tag, Frau Rinea. Es freut mich, dass Sie Zeit gefunden haben und ich Sie besser kennenlernen kann." Ich habe das Gefühl, dass mein Inneres unter ihrem Blick zusammenschrumpft wie eine Weintraube im Dörrapparat.

Sie lächelt, als könnte sie genau das sehen. "Gern geschehen."

Ich stiere auf meine Unterlagen und kann kein Wort lesen. Wie ging es weiter? Was soll ich fragen? Nur mit Mühe reisse ich mich von den unbekannten Buchstaben los und fixiere die Nase der Frau, die mir keinen so grossen Schrecken einjagt wie ihre Augen. Oder das Lächeln. "Erzählen Sie mir doch etwas über sich."

Ihr Blick vertieft sich, ich spüre ihn bis in meine Magengrube. "Wie hat Ihnen meine Vorstellung gefallen?"

Ich schrecke auf und blicke ihr nun doch wieder in die Augen. "Vorstellung?"

"Das Mädchen." Sie dreht den Kopf ein Stück zur Seite und hebt die Hand. Als sie den Finger ausstreckt, bildet sich auf der Kuppe ein weisslicher Tropfen, milchig, als würde darin ein Nebel schweben. Sie sieht mich an, leckt ihren Finger sauber. "Süss. Rein. Pure Angst." Sie sagt es, als wollte sie einen Mann verführen.

Meine Beine werden weich. "Sie sind die Gegnerin", versuche ich sie, sie von ihrer Karriere abzuhalten.

Sie lacht nur. "Liebend gern. Ich bin kein Teamplayer. Ich lebe von der Angst. Von Schrecken. Ich bin die geborene Nebelhexe." Sie steht auf und wirft mir einen letzten Blick zu. "Ich werde da sein, wenn du mich brauchst." Nicht falls. Oder wenn ich will. Sondern wenn ich sie brauche.

Ich stütze den Kopf auf die Hände. Sie weiss, dass sie den Job hat, und ich auch.

Ich gebe zu, mit dieser Übung hatte ich etwas Mühe, weil ich schon von Anfang an ein klares Bild von der Nebelhexe hatte. Ich denke auch, dass es ziemlich klar ist, wer den Job erhält. ;-) Nun brauche ich noch einen Jäger. Der wird dann spannender. :-D Aber ob ich es auch als Interview machen werde oder eher wieder nach Bauchgefühl, werde ich noch entscheiden. ;-)

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