· 

Gastbeitrag: Max reich mir deine Hand

Heute gibt es wieder einen Gastbeitrag von Ursula Grütters, der Teil des diesjährigen Osterspecials des Autoren-Adventskalenders ist. Hier findet ihr sie auf Facebook. ihr könnt auch per E-Mail mit ihr Kontakt aufnehmen.

 

Ursula wünscht Ihnen eine wichtige und einfühlsame Zeit beim Lesen.


Prolog

© by Ursula Grütters

 

Max ist ein kleiner Junge, dem sehr viel Schaden zugefügt wurde. Er hat nicht nur das Behindertenheim auszuhalten, sondern muss auch noch mit der schwersten Form der Bluterkrankheit, die ihm ständig Schmerzen verursacht, zurechtkommen. Nach fünfzehn Monaten Heimaufenthalt kommt er in eine Pflegefamilie. Die Brutalitäten, die der kleine Junge zunächst gegen sich selbst richtet, wälzt er nach einiger Zeit auf seine neue Familie ab. Mühsam muss Vertrauen und gegenseitiges Verständnis heranwachsen. Vorstellungen von einer Familienidylle müssen begraben und neue Ideale hervorgerufen werden. Max fordert jeden heraus, zu hinterfragen: „Wieso kann ich keine Liebe annehmen? Weshalb muss ich mir andauernd wie unter Zwang selber weh tun? Warum verhalte ich mich nur so eigenartig?“

 

Verlassene Kinder

    „Ja, wir haben da einen kleinen Jungen, der, weil er für das Säuglingsbehindertenheim zu alt ist, auch schon bald aus diesem herausmuss,“

    Die Jugendfürsorgerin hatte uns vor wenigen Tagen das erste Mal besucht. Wir hatten einen Antrag gestellt, ein Pflegekind in unserer Familie aufzunehmen. Das es allerdings so schnell gehen würde, damit hatten wir nicht gerechnet. Aber uns konnte es nur recht sein, wir freuten uns schon riesig auf unser neues Familienmitglied. 

    „Es ist ein Junge: Blond, blauäugig, eineinhalb Jahre alt und“;

Sie machte eine Pause, sah uns an, holte tief Luft, um dann fortzufahren:

    „Er ist Bluter, genauer gesagt, er ist Schwerstbluter“.

    „Was bedeutet das, Schwerstbluter zu sein?“,

wollte ich wissen. Bisher waren wir noch nie mit der Krankheit konfrontiert worden und hatten keinen blassen Schimmer von dieser Art Behinderung. 

    „Nun ja“,

fuhr sie fort,

    „das kann ich Ihnen auch nicht sagen“.

    Wir sahen uns fragend an, warteten auf eine Erklärung. 

    „Am besten ist, Sie erkundigen sich bei einem Arzt genauer, denn ich habe auch noch nie etwas davon gehört. Jedenfalls befindet sich der junge in einem Heim für behinderte Babys. Er wohnt nun schon über fünfzehn Monate dort und ist inzwischen zu alt für das Säuglingsheim geworden. In nächster Zeit wird er in ein Heim für Kleinkinder kommen, welches auch wieder ausschließlich für behinderte Kinder gedacht ist“.

    Sie sah uns bedeutungsvoll an. Die soeben erwähnte Tatsache, wenn wir das Kind nicht kurzfristig zu uns nehmen würden, ihm ein Heimwechsel bevorstehe, gebot Eile. Sie fuhr fort:

    „Der Junge heißt Max und ist mit drei Monaten in das Heim gekommen. Seine Mutter hat sich nie so richtig nach dem Wohlergehen des Jungen erkundigt, wir haben zu keinem Zeitpunkt auch nur irgendeine Gefühlsregung bei ihr bemerkt. Vom Vater wissen wir nichts, nicht einmal der Name ist uns bekannt, es gibt auch keine Familienangehörigen, die sich um den Jungen kümmern könnten.“

    Es war keine Frage, natürlich wollten wir Max kennenlernen. Wir waren eine junge Familie mit zwei Kindern. Unsere Mädchen waren fünf und sieben, Paul und ich neunundzwanzig Jahre alt. Wir waren seit neun Jahren verheiratet und hatten uns ein Haus auf dem Land gebaut. Wie man so schön sagt, Stein auf Stein selbst gesetzt. Unser Heim und auch der Garten boten den Kindern viel Freiraum. Wir hatten das Gefühl, es ginge uns so gut, dass wir noch ein Kind an unserem Leben teilhaben lassen wollten.

    Heute denke ich schon, dass eine Menge Naivität und Idealismus dazugehört, vielleicht war es auch Welt verbesserndes Denken. 

    Als wir den Antrag auf ein Pflegekind stellten, ließen wir die Fragen nach Geschlecht, Alter und Gesundheit offen. Wir wollten, wie bei einer eigenen Schwangerschaft nicht eingreifen, nicht bestimmen. Wir wussten lediglich, dass unser Familienzuwachs jünger als unsere Mädchen sein sollte. Es wurde uns vorgeschrieben, weil man davon ausging, dass Pflegeeltern mit älteren eigenen Kindern eine gewisse Erfahrung mitbringen würden.

    Dass uns diese Erfahrung nicht viel helfen würde, wusste zu diesem Zeitpunkt wohl noch niemand.

 

Hämophilie

    Ein gesunder Mensch hat bis zu einhundert Prozent Gerinnungsfaktor in seinem Blut. Den Blutern fehlt eben dieses Gerinnungsvermögen. Die Blutgerinnung ist wie ein lebenswichtiger Klebstoff, der allein die Blutungen stoppen kann. Man spricht bei dieser Krankheit von drei verschiedenen Schweregraden. Das geht von der leichten Hämophilie (so die Bezeichnung für Bluter), bei der die Betroffenen einen Restfaktor (also Klebstoff) von 15% - 45% haben, über die mittelschweren Hämophilien mit nur 1% – 15%. Bei der schwersten Form haben die Betroffenen nur zwischen 0% und 1% Restaktivität der Gerinnung im Blut.

    Max hat nur 0,6 Prozent Restaktivität im Blut!

 

Aufschrei

    Max gehörte nun ganz zu uns. Er besaß nicht viel, nur einen Pinguin und ein sich umklammerndes Affenpärchen nannte er seins. Wir haben leider nie herausfinden können, woher er die Stofftiere hatte. Nicht einmal irgendwelche Kleidungsstücke konnte er als seine eigenen benennen.

    Da hatten wir innerhalb von drei Tagen ein eineinhalbjähriges Kind bekommen und fühlten uns einerseits glücklich und zufrieden. Wir konnten jedoch nicht im Geringsten erahnen, wie voll sein kleines „Säcklein“ mit Lasten bepackt war. 

    Um ihm gleich das Gefühl der Geborgenheit zu geben, bereiteten wir ein großes Matratzenlager vor, auf dem alle drei Kinder gemeinsam schliefen. Unser Nachwuchs lag in der Mitte, was er auch sichtlich genoss. Meine Bande bekam noch eine Geschichte vorgelesen, worauf sich aber nur die Großen halbwegs konzentrierten. Für Max gab es anderes zu tun. Es gab da so viele fremde Leute, die man nicht genug ansehen konnte, das Haus und überhaupt so viel Neues.

    Er war noch viel zu klein, als dass wir ihm die ganze Tragweite der letzten Geschehnisse hätten erklären können. Wir hofften, er würde sich schnell bei uns wohl fühlen. Max selber konnte niemandem sagen, wohin er wollte. Wir hatten für ihn entschieden, in Zukunft seine Familie zu sein. 

    Nachdem sich alle Drei beruhigt hatten, trat sehr schnell die Nachtruhe ein, zu anstrengend war der Tag. Am darauffolgenden Morgen wurden wir durch ein irres Gebrüll geweckt. Max war als erster wach geworden und beabsichtigte anscheinend, die beiden Mädchen zu wecken, indem er ihnen mit den Füßen ins Gesicht trat. So unsanft aus dem Schlaf gerissen, gab es natürlich eine mächtige Schreierei. Er wollte die Mädchen nur wecken, hatte aber kein Gefühl für Feinheiten und so passierte es ihm halt, dass dieses Wecken etwas gröber ausfiel.

    Die Begeisterung für ihren neuen Bruder war fürs erste gedämpft. Von nun an mussten sie viel mehr Verständnis für unseren Nachwuchs aufbringen. Sie hatten ständig mehr Einfühlungsvermögen aufzubringen, als sie wirklich dazu imstande waren, was wiederum eine Überforderung bedeutete. 

    Wir versuchten es mit einem gemeinsamen Frühstück. Max bekam einen Platz neben mir. Es war am Anfang nicht möglich, in seiner Gegenwart ohne Hiebe von ihm etwas zu essen. Weil er solche Angst hatte, nicht genug zu bekommen, schlug er mir mitten ins Gesicht, wenn ich nur einen Bissen zu mir nehmen wollte. 

    Da saß er nun, der kleine Junge. Hatte selber den Mund zu voll, um ihm zumachen zu können, hielt in beiden Händen etwas zu Essen und war dennoch voller Sorge, nicht genug zu bekommen. 

    Armer Max! Diese Angst sollte noch über Jahre hindurch anhalten. Ein gemeinsames Mahl war nur mit gierigen Blicken seinerseits möglich. Seine Blicke gingen immer wie die eines wilden Tieres über den Tisch. Nur nichts versäumen, nur nicht zu viel auf dem Teller liegen lassen, lieber gleich alles in den Mund stecken, auch wenn die Menge nicht gekaut und hinuntergeschluckt werden konnte. Oft kam alles wieder retour, weil der kleine Mund unmöglich diese Masse an Nahrung verarbeiten konnte. 

    Nach dem Frühstück kamen die nächsten Sorgen: Wo gab es Gefahrenquellen, welche konnten wir ausschalten. Mit welchen mussten wir leben? 

    Um aus erster Hand über die Krankheit zu erfahren, suchten wir Eltern eines ebenso betroffenen Jungen auf. Die Mutter erzählte uns derart viele Schreckgeschichten, dass vor allem ich nicht allzu viel davon wahrhaben wollte. Zu utopisch kamen mir ihre Schilderungen vor. Sie erzählte davon, dass in wenigen Augenblicken aus einem gesund erscheinenden Jungen ein Schwerstinvalide werden kann. Die Vorstellung, dass Max innerhalb weniger Minuten an inneren Blutungen, die durch Wachstumsschübe oder Spontanblutungen ohne äußere Verletzungen, verbluten könnte, entsetzte mich zutiefst. Mit dem Gehörten war ich absolut überfordert.

    Inzwischen bin ich eines Besseren belehrt worden. Die Schreckgeschichten von damals kommen mir heute noch eher untertrieben vor. Längst haben wir viele diese Schauergeschichten selbst miterleben müssen.

 


Dies ist ein Beitrag, der im Osterspecials des Autoren-Adventskalender 2024 erscheint. Dort gibt es weitere Geschichten, Gedichte und andere Beiträge rund um Weihnachten und Ostern.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0