Herzenstanz in Reykjavík (Leseprobe)

Prolog

Im Freudenrausch fegte ich über das Parkett, die Musik flutete meine Adern und liess mich die Müdigkeit vergessen. Als mein Tanzpartner mich in eine Drehung führte, schloss ich die Augen und genoss, was ich tun konnte – tanzen. Im Bann des Rhythmus, als wäre ich auf Drogen.

Ich verschmolz mit der Musik, der Rhythmus wurde zu meinem Herzschlag. Freier als ein Vogel flog ich dahin, genoss die Energie.

Leandra gab es nicht mehr – ich versank im Taumel, in diesem grandiosen Gefühl zwischen Traum und Nichts.

Bedingungslos liess ich mich fallen, ich fühlte keine Angst. Glück strömte durch meinen ganzen Körper. Bis in die Unendlichkeit würde ich tanzen, immer wieder den Kontakt zu meinem Tanzpartner suchen. Seine Hand führte mich durch die Menge, liess mich gehen, damit ich mich um meine eigene Achse drehen konnte, und fing mich sicher wieder auf. Passend zur Melodie führte sie mich näher, ich hielt inne, passte mich dem Mann an, bis wir nach vorn hüpften, einmal, zweimal.

Atemlos drehte ich mich durch die Welt, ich war plötzlich ganz allein im Universum. Mit meinen Händen, mit jedem Schritt formte ich es neu, liess Blumen unter meinen Füssen aus dem Eis wachsen, überall schien Licht, Wärme, Freude.

Ein Traum, der nicht enden durfte.

Er tat es trotzdem, als die Musik nach und nach verstummte. Ein bisschen verwirrt sah ich mich um, blickte in die Augen des Isländers vor mir, der mich anlächelte, als wüsste er, wie ich mich fühlte.

Aber vermutlich konnte das niemand ahnen. Jetzt gerade ging es mir beschissen, ich war wie auf Entzug. Hey, ich brauchte meine Drogen! Musik, Rhythmus und einen wehenden Rock.

Es waren die wenigen Momente, in denen ich meine paar Kilos zu viel trotz allem liebte. Beim Tanzen war ich frei von allem, was mich belastete.

Ich war einfach nur ich.

Die Hand des Isländers ruhte noch immer an meinem Rücken. Leider führte er mich nicht wieder zu sich, sondern an einen Tisch hinten im Lokal. Er nickte mir kurz zu, ehe er an die Theke trat. Ein wenig staunte ich schon, dass er keine Kellnerin rief, sondern einfach zwei Bierdosen nahm und sie an den Tisch brachte.

Er war gross, vielleicht eineinhalb Köpfe grösser als ich, und doppelt so breit. Nein, so schlank war ich selbst nicht, aber trotzdem kräftig. Auf den vollen, vom Tanzen geröteten Wangen zeigte sich ein blonder Bartschatten, das Kinn zierte eine schmale Kerbe. Die hellen Augen blitzten fröhlich, wenn er sich auf dem Parkett etwas Spezielles überlegte.

Er brabbelte irgendetwas Unverständliches und unterbrach dabei meine Gedanken.

Ich bemühte mich um ein entschuldigendes Lächeln, obwohl ich noch immer ein wenig enttäuscht war, dass ich nicht wieder fliegen – andere nennen es tanzen – konnte. »Ich kann kein Isländisch«, erklärte ich auf Englisch.

Er hob eine Augenbraue, lächelte aber ebenfalls. »Ich bin Elfar«, wechselte er problemlos die Sprache, bevor er einen ersten Schluck aus seiner Dose trank.

»Lea«, stellte ich mich vor. Um ihn nicht zu enttäuschen, nippte ich an meinem Bier. Ich mochte Bier zwar, aber beim Tanzen war ich gern nüchtern – ich wollte es so richtig geniessen! Jeden einzelnen Atemzug, jeden schmerzenden Muskel, all die aufregenden, lustigen, atemlos machenden Momente in mich aufsaugen.

»Woher kommst du?« Wieder riss er mich aus meinen Gedanken, aber ich mochte Elfar trotzdem. Irgendwie war er wie ein grosser Bruder. Auch wenn ich ihn kaum kannte, fühlte ich mich bei ihm wohl und taute auf.

»Aus der Schweiz. An der Uni kann ich an einem Projekt für tiefe Geothermie arbeiten, aber ich bin erst gestern angekommen, also kann ich dir noch nicht viel erzählen.« Wie immer, wenn ich davon schwärmte, dass ich diese tolle Stelle ergattert hatte, strahlte ich – aber nicht ganz so stark wie beim Tanzen.

Für einen Moment starrte er mich überrascht an, dann grinste er. »Na, dann warte mal ab. Am Montag weihe ich dich in die Geheimnisse ein.«

Ich zog die Augenbrauen zusammen.

»Ich arbeite auch daran«, erklärte er mit einem Lächeln.

Der Mund klappte mir auf, dann lachte ich laut los. Island war so unglaublich klein – dafür umso herzlicher. Da ging man ahnungslos durch die Strassen Reykjavíks, hörte ein bisschen Swingmusik, ging hinein, weil man einfach nicht widerstehen konnte, und wurde vom zukünftigen Arbeitskollegen als Erstes zum Tanzen aufgefordert.

Schon jetzt liebte ich es hier.

 

Kapitel 1

Als der Duft der heissen Schokolade in meine Nase stieg, schloss ich für einen Moment genussvoll die Augen. Wie herrlich, wieder hier zu sein, in diesem wundervollen Café, mit seinen bunten Stühlen und den Tischen, die beim besten Willen nicht zusammenpassen wollten. Das Púmba liebte ich einfach, die Farben, das Chaos und die Atmosphäre.

Dadurch liess ich mich jedoch nicht vom Sahneturm auf meinem Getränk – Dessert hätte es wohl bes¬ser getroffen – ablenken. Sogar Schokoladensplit¬ter hatte der nette Student hinter dem Tresen darüber verteilt. Diese heisse Schokolade stammte direkt aus dem Schokohimmel, da war ich mir sicher.

Den ersten Löffel liess ich auf meiner Zunge zergehen, den zweiten schob ich ein wenig zur Seite, damit ich an die süsse Milch kam. Welch ein Traum!

Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und liess den Blick durch das überschaubare Café schweifen. Ein Paar sass tuschelnd an einem Tisch in der Ecke. Dabei strich er ihr immer wieder über die Wangen, während sie ihn unverhohlen anhimmelte. Sie sahen nicht älter aus als achtzehn, neunzehn Jahre. Hatte ich mich vor zehn Jahren auch so verhalten?

Die Glöckchen der Eingangstür klingelten. Mehr aus Gewohnheit denn aus Interesse wandte ich dem Neuankömmling den Blick zu, doch er hatte sich bereits zum Tresen umgedreht, sodass ich nur seinen Rücken bewundern konnte. Der Mann war gross und schlank, und er hatte volles Haar.

Ich lächelte in mich hinein. Die Rückansicht gefiel mir schon sehr gut. Ich malte mir grinsend aus, wie er sich umdrehte, um mich mit einem umwerfenden Lächeln in seinen Bann zu ziehen.

Falls ein hässliches Gesicht ihn verunstaltete, hatte ich richtig Glück gehabt – und wollte noch ein bisschen weiterträumen.

Wie er sich durch die Haare fuhr und das Wechselgeld entgegennahm, die Art, wie er mit dem jungen Mann sprach, kam mir seltsam vertraut vor. Das an der Schulter angedeutete Lachen, das sich aus seiner Kehle Bahn brach, und wie er das Portemonnaie in die Hosentasche steckte, erinnerten mich an …

»Gerry!«

Mir blieb der Mund offen stehen. Wenigstens war ich nicht die Einzige, die für einen langen Augenblick nicht wusste, was sie tun oder sagen sollte, aber meine Lippen waren diejenigen, die sich schneller wieder schlossen.

Gewohnt lässig und mit strahlendem Gesicht kam Gerry auf mich zu, setzte sich wortlos mir gegenüber und schüttelte den Kopf.

Irgendwo weit entfernt realisierte mein Unterbewusstsein, dass ich grinste wie ein Honigkuchenpferd. Ich wusste gar nicht, ob mich sein Äusseres oder das überraschende Auftauchen mehr verwirrte.

Meine heisse Schokolade und der Cheesecake waren für den Augenblick vergessen, ich konzentrierte mich komplett auf den jungen Mann vor mir.

Okay, so jung war er auch wieder nicht, er war fünf Jahre älter als ich. Aber das hatte uns noch nie gestört. Unsere Freundschaft hatte alles überdauert – fast.

»Meine Güte, Gerry, was machst du denn hier?«

Noch einmal schüttelte er den Kopf, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Unglaublich, dich hier zu treffen.« Er trank einen grossen Schluck Kaffee. »Ich war oben bei der Hallgrímskirkja und wollte eigentlich zum Kofinn, aber habe dann spontan entschieden, meinen Kaffee hier zu trinken. Bei dem bunten Haus musste ich direkt an dich denken.« Er zwinkerte mir zu.

Die Hallgrímskirkja, das Wahrzeichen Reykjavíks, thronte über der Hauptstadt Islands. Die stufenförmigen Flügel liessen den Koloss eleganter erscheinen, als er eigentlich war, aber seitdem ich den Turm im Winter bei Dunkelheit besichtigt hatte, war ich begeistert davon. Die Aussicht war grandios. Folgte man der Strasse zum Zentrum Reykjavíks, gab es dort dieses winzige Restaurant, das früher einmal die beste Tomatensuppe der Welt im Brot serviert hatte. Selbst jetzt lief mir noch das Wasser im Mund zusammen.

Um eine Antwort ein wenig hinauszögern zu können, nippte ich an meiner heissen Schokolade. Dabei beobachtete ich fasziniert das Mienenspiel auf Gerrys Gesicht. Als ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte, trug er das dunkelbraune Haar noch ein bisschen länger, aber es war schon damals nach rechts gekämmt gewesen. Seine Wangengrübchen hatten sich nicht verändert, dafür zierte ein Bartschatten sein üblicherweise bartfreies Kinn. An die grauen Augen mit den dunkelblauen Sprenkeln darin konnte ich mich noch sehr gut erinnern, doch jetzt war das Licht so ungünstig, dass ich sie nicht sehen konnte.

Ich liess mich zu einem Schmunzeln verleiten. »Du denkst immer noch an mich?«

Entspannt lehnte Gerry sich zurück, seine Augen blitzten erfreut auf. »Direkt wie eh und je!« Wieder schüttelte er fassungslos den Kopf. »Bei einer einzigartigen Frau wie dir ist Vergessen unmöglich.« Zur Abwechslung lenkte er den Blick auf seinen Kaffee und trank einen Schluck.

Ich lachte. »Mit Komplimenten bist du noch nie sparsam umgegangen. Wie lange ist es her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben? Zwei Jahre?«

Wenn ich mich nicht täuschte, verdüsterte sich seine Miene ein ganz kleines bisschen. Aber vielleicht lag das auch am herbstlichen Wetter draussen. Seit Tagen herrschten in Reykjavík Wolkengrau, Meeresgrau und Regengrau vor. Der einzige Ort mit Farbe war das Café Púmba, in dem wir jetzt sassen.

»Nein, drei«, antwortete er. »Wollen wir es genau nehmen, dann sind es noch zweieinhalb Monate mehr.«

Jetzt war es an mir, den Kopf fassungslos zu schütteln. Klar konnte ich mich an unseren Fehltritt von damals erinnern, der aus besten Freunden Unbekannte gemacht hatte. Aber dass es schon drei Jahre her war, konnte ich fast nicht glauben. Nur zwischendurch hatte es sich angefühlt, als wäre es tausend Jahre her, seit wir zum letzten Mal miteinander getratscht hatten. Besonders in der ersten Zeit nach dem Kontaktabbruch hatte er mir extrem gefehlt, aber irgendwann hatte ich mich daran gewöhnt.

Ich wollte nicht an damals zurückdenken, also wechselte ich das Thema. »Machst du hier Ferien?«

Bestätigend nickte er. In seinen Augen stand die Erleichterung nur zu deutlich geschrieben, von diesem heiklen Thema abweichen zu können. »Für zwei Wochen.«

»Im Herbst?« Ich hob die Augenbrauen. Niemand reiste im Oktober freiwillig nach Island. Dafür war es viel zu kalt, zu windig und die meisten Attraktionen ausserhalb der Hauptstadt hatten schon geschlossen, jedenfalls die ganz besonderen.

Wieder nickte er, das Lächeln wurde breiter. »Wieso nicht? Dann kann ich in Ruhe reisen.«

Das war allerdings ein Argument. Wenn ich an unsere Ferien zurückdachte, mit den vielen Touristen, konnte ich ihn verstehen. Auch ich genoss die Freiheit, eine Tour zu unternehmen, wenn mir danach war, ohne über Ströme von Reisenden zu stolpern.

»Und du?«

»Ausgewandert.« Meine Stimme nahm diesen verträumten Klang an, den sie nur hatte, wenn ich von Island und dem, was ich hier tat, erzählte.

Gerrys Augen sprangen fast aus ihren Höhlen, als er mich mit offenem Mund anstarrte. Leise lachte ich in mich hinein, genoss aber diesen Moment seiner Verwirrung.

Schliesslich fand er die Sprache wieder. »Du? Ausgewandert?« Ich hörte den Unglauben in seiner Stimme.

Am Anfang war es mir nicht leicht gefallen, von meiner Idee zu berichten, aber inzwischen hatte mein Umfeld sie grösstenteils akzeptiert. Was meine Eltern und Freunde von mir dachten, war mir schon immer wichtig gewesen. Vor eineinhalb Jahren hatte ich sie mit meinen Plänen und dem Arbeitsvertrag aus Reykjavík überrumpelt, die Reaktionen waren entsprechend verhalten ausgefallen. Jetzt konnte ich frei von der Leber plaudern, ich fühlte mich angekommen.

Bevor ich antwortete, holte ich tief Luft. Lächelnd relativierte ich meine Aussage. »Nun ja, nur ein bisschen. Seit letztem Sommer arbeite ich bei einem Forschungsprojekt mit, das zeitlich auf drei Jahre begrenzt ist. Vielleicht wird es weitergeführt, vielleicht finde ich eine andere Stelle. Aber für die nächsten Jahre werde ich hierbleiben.«

Anerkennend nickte er. »Wow, Hut ab. Es scheint dir gut zu bekommen.«

Ich lachte so laut, dass sich das Paar in der Ecke zu uns umdrehte und mich mit neugierigen Blicken musterte. »Ist ja auch nicht schwierig hier. Island ist einfach sensationell.«

Wieder trank er einen Schluck Kaffee. »Ich weiss.«

Sofort sah ich uns in unseren Ferien wieder, wie wir immer wieder vor Erstaunen die Augen aufgerissen, uns kaputt gelacht und die verschiedensten Restaurants ausprobiert hatten.

Ich nickte in Richtung des Platzes vor ihm auf dem Tisch, wo ein Dessert ausreichend Platz gehabt hätte. »Wieso kein Cheesecake?«

»Weil jemand mir das letzte Stück vor der Nase weggeschnappt hat. Jedenfalls hat mir das der Typ hinter der Theke erzählt.«

Ich nickte. Ein guter Grund. Eigentlich der einzige, den ich als Ausrede akzeptierte. Grosszügig schob ich den Teller ein bisschen über den Tisch. »Magst du auch?« Ich strich mit der flachen Hand über meinen nicht ganz so flachen Bauch. »Ich kann nicht mehr«, gab ich zerknirscht zu.

Gerrys Lachen war fast ein bisschen schadenfroh. »Sind Kuchen und heisse Schokolade mit Sahnehaube noch immer zu viel auf einmal?«

Ich warf ihm möglichst giftige Blicke zu, doch er war vom luftigen Cheesecake abgelenkt, sodass er mich nicht beachtete. Schade, dabei hatte ich mir so viel Mühe gegeben.

»Na, weisst du, ich achte inzwischen auf meine Linie.« Ich schob den Bauch ein bisschen weiter raus, damit er meine Linie uneingeschränkt bewundern konnte. »Wäre doch schade, wenn ich diese Rundung verlieren würde.«

Er zwinkerte mir zu. »Und du bist dir sicher, dass du hier arbeitest und dir nicht bloss Winterspeck anlegst?«

»Winterspeck ist wichtig«, antwortete ich gespielt ernsthaft, obwohl er nicht ganz unrecht hatte. Seitdem ich hier war, hatte ich tatsächlich ein paar Kilo zugelegt, aber das würde ich bis in knapp zwei Jahren auch wieder runter haben.

Ganz bestimmt. Oder wenigstens vielleicht.

»Ausserdem will ich doch Land und Leute kennenlernen – und das geht nun mal am besten durch den Magen.«

»Sagt man das nicht von der Liebe?«

Mit leicht gerunzelter Stirn nickte ich. »Eben. Island ist meine grosse Liebe.«

Als mein Blick auf seinen traf, schlich sich ein Grinsen auf unsere Gesichter. Wie unglaublich unkompliziert es zwischen uns war, wie vertraut, auch wenn wir uns eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr gesehen hatten.

Früher hatten wir zusammen Fussball geschaut und dabei Bier getrunken, hatten uns nachts auf Wiesen gelegt und über Sterne und unser Leben philosophiert. Wir hatten sogar geduscht, wenn der andere im selben Bad stand. Er war meine Busenfreundin gewesen. Nur hatte er anstatt Brüste eben was zwischen den Beinen.

Gerrys Stimme holte meine Gedanken aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurück. »Und woran arbeitest du?«

Fast hätte ich mein Lächeln nicht bemerkt. »Im Bereich der Geothermie sind Verbesserungen von der technischen Seite her möglich, die die Energiegewinnung wesentlich effizienter machen. Noch sind wir am Anfang, der Weg noch weit. Wenn wir ein Teilstück verbessert haben, muss das auch in die bestehende Mechanik eingefügt werden.«

Gerry schmunzelte. »Die Maschinenbauingenieurin in ihrem Element. Und dafür musstest du echt auswandern?«

Ich wich seinem Blick aus und wusste im selben Augenblick, dass er die Antwort kannte, auch wenn ich noch nichts erzählt hatte. Solche und ähnliche Aufgaben hätte ich auch in der Heimat erledigen können.

»Bist du auf einem Selbstfindungstrip?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Suchst du dir einen reichen Isländer zum Heiraten?«

Jetzt hatte ich nur noch zusammengezogene Augenbrauen für Gerry übrig.

Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, die Augen weit aufgerissen. In ihnen stand ein verräterisches Funkeln, das mich hellhörig machte. »Jetzt weiss ich es! Du willst die Elfen sehen.«

Unter Aufbietung all meiner Kräfte hielt ich das Lachen zurück, obwohl mir der Bauch schon fast schmerzte, und brachte gerade so ein ernstes Nicken zustande. »Du hast es erfasst. Zwei haben mir schon einen Heiratsantrag gemacht. Ich glaube, ich entscheide mich für den reicheren und ziehe mit ihm an den Strand. Dort werde ich den ganzen Tag aufs Meer hinausstarren, um mich selbst in den Wellen zu finden. Selbstfindungstrip mit Heiratsabsichten eben.« Ich zuckte mit den Schultern.

»Wusste ich es! Ha!« Triumphierend zeigte er mit dem Finger auf mich.

Mit einem Lachen, einer Explosion gleich, entlud sich all die Spannung in meinem Inneren. Das ging einfach zu weit.

»Und stell dir erst eure Kinder vor!« Er hielt einen Augenblick inne, runzelte die Stirn. »Mögen Elfen Sex? Sind es eigentlich die kleinen, schrumpeligen Kerle oder die Herr-der-Ringe-Elfen?«

Ich hielt mir den Bauch, als eine neue Welle mich überrollte. Ich japste nach Luft, versuchte, Gerry mitzuteilen, dass er doch bitte damit aufhören sollte, doch er kannte keine Gnade.

»Für dich hoffe ich, dass es die grossen sind. Weisst du, sonst ist der Sex sicher nicht so befriedigend.« Verschwörerisch beugte er sich nach vorn. Zwischen Zeigefinger und Daumen liess er nur einen kleinen Spalt frei. »Siehst du, wenn ein kleiner mir bis zu den Knien reicht, dann wäre sein bestes Stück etwa so gross. Reicht dir das?«

Erwartete er von mir ernsthaft eine Antwort, obwohl mein Bauch schmerzte und ich nicht mehr atmen konnte? Ich wandte mich ab. Vielleicht war mein Lachen laut genug, um seine Worte zu übertönen. Doch der kleine Schwanz hatte sich in mein Gedächtnis eingebrannt, so einfach war mein Lachen nicht zu besiegen.

Ich hoffte inbrünstig, dass niemand hier uns verstand. Es war mir egal, dass sich alle fragten, warum ich auf der Tischplatte lag und bald blau anlief. Hauptsache, niemand erkannte, was für einen bescheuerten besten Freund ich hatte.

Schliesslich rappelte ich mich auf, wischte mir die Tränen aus den Augen und hoffte, dass Gerry nicht gleich wieder ein solcher Spruch einfiel.

»Du warst schon immer anders.« Er sprach ganz sanft, vielleicht sogar ein bisschen wehmütig. Ein Lächeln zeichnete sich auf den vollen Lippen ab und setzte sich bis zu den dunklen Augen fort. »Egal, wie schräg die Witze waren, du hast einfach immer gelacht.«

Ich versteckte das Lächeln hinter der Tasse. »Das kann ich immer noch.« Ich stellte die Schokolade zurück auf die Untertasse, an der ein winziges Stück aus dem Rand gebrochen war. In keinem anderen Café kam kaputtes Geschirr auf den Tisch, im Púmba gehörte es irgendwie zum guten Ton.

Eine Weile schwiegen wir, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

Das war neu. Manchmal hatten wir nur mit halbleerem Akku telefoniert, damit wir auch ganz sicher irgendwann fertig wurden. Es hatte kaum einen Augenblick gegeben, in dem keiner von uns etwas gesagt hatte.

Aber ich genoss die Zeit. Sie liess mich Gerry in Ruhe betrachten, während er sich neugierig im Café umsah und an den vielen, verschrobenen Details hängen blieb. Zwischen den dunklen Haaren blitzte immer mal wieder ein silbernes auf, die Falten in seinem Gesicht waren ein kleines bisschen tiefer als noch vor drei Jahren. Ein feines Lächeln umspielte seine Lippen, der rechte Mundwinkel war noch immer höher als der linke. Und der Dreitagebart stand ihm verdammt gut.

»Vielleicht versuche ich tatsächlich, meinen Weg zu finden«, gab ich leise zu und zog damit seine Aufmerksamkeit wieder auf mich.

Das Lächeln wurde deutlicher. Böser. »Gehört dazu nicht auch ein körperbewusster Lebensstil ohne unnötige Kalorien, E-Nummern und Kristallzucker?« Ein Blick zum leeren Teller reichte aus, um mich wissen zu lassen, dass er vom Kuchen sprach. »Um dich voll und ganz auf dich und deinen Weg konzentrieren zu können, musst du dich doch erst entschlacken, nur noch Biogemüse essen und einen Fruchtsaft pro Tag trinken? Bio, richtig? Und muss es inzwischen auch vegan sein?«

Schon früher hatten wir uns über die superdürren Frauen lustig gemacht, die mit ihren zu allen Seiten abstehenden Haaren und selbstgestrickten Pullovern von Selbstfindung gesprochen hatten – ohne jeglichen Bezug zur Realität. Jetzt warf er mich mit ihnen in einen Topf. Dabei hatte er vermutlich nicht so ganz unrecht – auch wenn ich mich unter anderem von nicht veganen Nicht-Bioprodukten ernährte. Und nicht sehr kalorienarm, obwohl das meinem Hüftgold sehr gutgetan hätte. Jedenfalls von meiner Warte aus. Ob es dem Speck ebenfalls gefallen hätte, bezweifelte ich.

Mit einem Blick in Gerrys Augen versuchte ich herauszufinden, wie weit er mich verstehen würde. Zu lange hatten wir nicht mehr miteinander gesprochen. Eigentlich waren wir wie Fremde und doch war da die Verbundenheit, die uns schon bei unserem ersten Zusammentreffen bis weit in die Nacht hatte diskutieren lassen.

Die schlimmste Reaktion, die ich mir vorstellen konnte, war ein Lachanfall, also gab ich mir einen Ruck. »Nach zwei langen Jahren in der Privatwirtschaft hatte ich einige Angebote von renommierten Firmen auf dem Tisch liegen – Forschung, interessante Projekte.« Seufzend hob ich meinen Blick, um Gerrys Reaktion abschätzen zu können.

Mit einem feinen Lächeln sah er mich aus seinen dunklen Augen interessiert an. »Du hast abgelehnt.«

Wie durchschaubar war ich für ihn? »Es hat sich nicht richtig angefühlt. Auch jetzt noch bin ich mir sicher, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Hier fühle ich mich frei. Lebendig. Irgendetwas macht es mir hier leicht, glücklich zu sein.«

Er legte den Kopf leicht schief. »Vielleicht, weil du dir im Púmba den Bauch vollschlägst?«

Ich lachte leise auf. »Wenigstens kann ich es geniessen und muss nicht auf Leckereien verzichten, nur weil ich gertenschlank sein will«, konterte ich. Dabei liess ich meinen Blick auffällig zu seinem Bauch und zurück in sein Gesicht schweifen.

Verdammt, er war wirklich gertenschlank.

Nicht, dass ich ungern gertenschlank wäre, aber der Preis dafür war mir einfach zu hoch. Immer auf Kalorien und die Ernährung zu achten, widerstrebte mir. Lieber genoss ich hin und wieder ein gutes Stück Fleisch mit einem Gläschen Wein und hinterher einen Schoko-Lavacake. Hätte ich nicht gerade eben ein halbes Stück vom legendären Púmba-Cheesecake verdrückt, würde mir vermutlich nur bei dem Gedanken daran das Wasser im Mund zusammenlaufen.

Gerry lachte und lehnte sich dabei zurück. »Du weisst ganz genau, dass ich deswegen auf nichts verzichte.«

Eins zu null für ihn. »Manchmal wünsche ich mir, ich könnte auch so essen wie du und so schlank bleiben.«

Gerry hob überrascht die Augenbrauen und schenkte mir dann sein entwaffnendes Lächeln. Das hatte er schon vor drei Jahren im Griff gehabt. »Du siehst blendend aus.« Er beugte sich wieder nach vorn. »Also, erzähl, was gefällt dir so gut im kalten Norden?«

Ich holte tief Luft. »Das versuche ich noch herauszufinden. Ich geniesse die Praktika an der Uni, bei denen ich aushelfen kann, sehr. Wenn ich etwas erklären kann und es dann verstanden wird …« Ich spürte, wie ein Strahlen mein Gesicht erfasste, und schüttelte selig den Kopf. »Und ich kann sehr viel tanzen.« Was meinen Bauchumfang noch erstaunlicher machte.

»Ich freue mich für dich.«

Ich hob an, um meine Verteidigungsrede auszupacken, und hielt im allerletzten Moment inne. Er freute sich für mich? Ich blinzelte, Gerry lachte.

»Deine Augen leuchten.«

Ich erschrak. Überfordert von dem ehrlichen Kompliment, starrte ich ihn einen Moment entsetzt an, ehe ich mich räusperte, ohne jedoch zu wissen, was ich als Nächstes sagen sollte. Ein Blick zur Uhr befreite mich von der Pflicht, eine schlagfertige Antwort bereitzuhalten. Erschrocken sprang ich auf. »Es ist schon spät, ich muss los.« Ich hatte tatsächlich noch einiges in der Stadt zu erledigen, bevor ich mich für den Abend bereit machen konnte.

Mit offenem Mund beobachtete Gerry mich, als ich die Jacke anzog und einen gehetzten Blick zur Tür warf. »Tut mir wirklich leid«, fügte ich hinzu, als ich an ihm vorbei hinausstürmte.

Mein Herz klopfte und daran war nur Gerry schuld. Er durfte mir nicht ohne Vorwarnung solche Komplimente machen.

 

Ich schloss die Tür auf und trat in den kurzen Gang mit Garderobe, der sich nach wenigen Schritten zum Wohn- und Essbereich im Erdgeschoss weitete. Das Häuschen bot für höchstens drei Personen Platz, doch damit reichte es für mich völlig aus. Neben einer grossen Fensterfront, die den Blick auf einige Bäume freiliess, wartete ein grosser Kamin darauf, eingefeuert zu werden. Das moderne, graue Sofa davor lud zum Verweilen ein, der hölzerne Esstisch im Vintage-Stil daneben ebenfalls. In einer Ecke stand die Küche, schlicht und ohne Schnörkel, dafür praktisch eingerichtet. Auf der anderen Seite des Raumes führte eine offene Treppe ins Dachgeschoss, in dem zwei Schlafzimmer und eine Dusche Platz fanden. Auf der Galerie stand mein Schreibtisch, mit Ausblick zum Garten, der an einen kleinen See anschloss – nur für den Fall, dass mir beim Arbeiten langweilig werden sollte.

Ich trat an die Tür zur Veranda und beobachtete die Wellen auf dem See. Zum Baden war er viel zu kalt, doch ich mochte seinen Anblick, wenn die Sonne morgens aufging und ihn in brennendes Feuer verwandelte.

Doch heute dachte ich nicht daran. Noch immer versuchte ich, Gerrys Auftauchen einzuordnen. Nach unserem Zerwürfnis damals hatte ich mir geschworen, nie mehr mit ihm zu sprechen, geschweige denn mit ihm zu lachen. Und doch hatte ich es getan.

Zu meiner Verteidigung brachte ich ein, dass er mich völlig unvorbereitet angetroffen hatte. Das war etwas anderes, als in seiner Stammkneipe ein Bier trinken zu gehen und dort mit ihm rechnen zu müssen.

Seit unserem Zwist war ich nie mehr dort gewesen.

Mein Handy piepste. Froh um die Ablenkung las ich die Nachricht und runzelte die Stirn, als das Handy noch einmal klingelte.

 

Unbekannt: Schade, dass du so schnell wegmusstest.

Unbekannt: Vielleicht können wir uns ja mal treffen. In Ruhe. Ich würde gern meinen alten Kumpel wieder neu kennenlernen.

 

Es bestand wohl kein Zweifel, dass es Gerry war. Beim Gedanken daran, wieder mit ihm über alte Zeiten und neue Träume zu plaudern, schlich sich ein breites Grinsen auf mein Gesicht.

 

Leandra: In Ordnung. 19:00 Uhr beim Lækjartorg?

 

Der Lækjartorg war sozusagen Reykjavíks Herz, praktisch alle Buslinien hielten an diesem Platz, und er lag so zentral, dass auch Gerry sicherlich nicht lange gehen musste. Ausserdem wusste er vermutlich noch, wo er lag. Ansonsten konnte ihm jeder in der Stadt helfen.

Ich musste nicht lange auf eine Antwort warten.

 

Unbekannt: In Ordnung. Bis dann, ich freue mich. :-)

 

Ich änderte Unbekannt in Gerhard Bergman und lächelte leise vor mich hin. Ich freute mich auf den Abend mit meinem allerbesten Freund.

 

Kapitel 2

In Island brachen die Nächte im Oktober schon früh herein. Die Strassenlaternen brannten, Leuchtreklamen sprangen mir ins Auge. Mit dem Ziel, möglichst bald in eine warme Stube eintreten zu können, huschten Isländer an mir vorbei. Hin und wieder schenkte mir einer ein nettes Lächeln, einmal winkte mir sogar ein Arbeitskollege zu.

Ich wusste, dass ich zu früh dran war. Trotzdem platzte ich fast vor Ungeduld, weil ich Gerrys Auftauchen kaum erwarten konnte.

Endlich entdeckte ich den bekannten Haarschopf zwischen all den anderen und ging auf ihn zu. Gerry brauchte einen Moment länger, doch als sein Blick meine Augen streifte, erfasste ein Strahlen sein Gesicht. Er breitete die Arme aus und drückte mich an seine Brust.

Ich lachte und stiess ihn sanft von mir weg. »Du bist spät dran«, rügte ich ihn mit einem angedeuteten Lachen in der Stimme. »Hoffentlich hat uns noch niemand den Platz weggeschnappt.« Es war nur ein Witz, ich hatte reserviert. Die letzten Monate hatten mich gelehrt, mir im Bistro zumindest am Abend einen Tisch zu bestellen.

»Wow!« Gerry stand mit offenem Mund vor mir und betrachtete mich von oben bis unten. »Hast du heute noch was vor?«

Ich hakte mich bei ihm unter und zog ihn in Richtung Altstadt. »Ich gehe tanzen.« Nur bei dem Gedanken daran machte ich einen kleinen Hopser.

Für den tollen Abend hatte ich mich extra schick gemacht und mein hellgrünes Kleid mit den schwarzen Punkten im Rockabilly-Stil hervorgeholt. Es war eines derjenigen, die ich hier für viel Geld erstanden hatte. Die Schneiderin stellte so tolle Kleider her, da konnte ich nicht einfach an ihrem Geschäft vorbeigehen, ohne wenigstens hineinzusehen. Leider blieb es meist nicht dabei, ein Tanzkleid wollte mit mir nach Hause.

Ganz ehrlich, es war die Schuld der Kleider, nicht meine. Zwar passte Rockabilly nicht so wirklich zu Lindy Hop, aber die braunen Säcke, ohne auch nur einer Andeutung einer Taille, liessen mich jeweils aussehen, als hätte ich mich als Wurst verkleidet. Also trug ich das, worin ich mich wohl und ein wenig attraktiv fühlte.

Gerry lachte, hielt seinen dummen Spruch aber zurück. Dafür rückte er ein bisschen näher zu mir. Er knuffte mich leicht in die Seite, während sein Blick auf die Buchhandlung fiel. »Ist sie noch geöffnet?«

Gespielt genervt rollte ich die Augen. »Nicht schon wieder Bücher.« Ich lenkte meinen alten Freund unnachgiebig durch die alten Gassen, in das Bistro hinein und durch das Getümmel zu meinem – unserem – Tisch.

Nach bald drei Monaten hatte ich hier schon meinen eigenen Tisch. Die Angestellten wussten, welchen sie reservieren mussten, wenn ich anrief. Ein Lächeln huschte mir über das Gesicht, als ich an Erlas Frage zurückdachte. »Fyrir tvo?« – »Für zwei?« Ich konnte mir das Gesicht der quirligen Isländerin und gleichzeitig meiner besten Freundin nur zu gut vorstellen.

Vermutlich verstand sie die Welt nicht mehr. Noch nie hatte ich jemanden zum Essen mitgebracht, ausser ihren Bruder Elfar, der auch an der Uni arbeitete. Eigentlich war Erlas Frage unangebracht gewesen – man hob keine Augenbraue und fragte noch einmal ungläubig nach, ob der Gast auch tatsächlich in Begleitung erscheinen würde.

Aber ich war nicht böse. Hier in Reykjavík sahen viele die Welt ein bisschen anders, lockerer und aufgeschlossener. Genau diese Atmosphäre brauchte ich, um meinen beiden Leidenschaften nachzukommen.

Trotzdem würde es mich nicht wundern, wenn Erla plötzlich im Bistro auftauchte, um meine Bekanntschaft zu sehen. Ein bisschen froh war ich schon, dass beim Anruf Hochbetrieb geherrscht hatte, sodass ich um eine lange Erklärung herumgekommen war.

Ich hängte meine Jacke und den Schal über die Stuhllehne, als Alfred kam, die Karten brachte und uns nach den Getränken fragte.

Im übervollen Bistro war es laut. Am erhöhten Tisch neben uns feierte eine Gruppe Frauen irgendeinen Abschluss, hinter Gerry verhandelten drei Geschäftsleute miteinander. Ich erkannte es an ihren Mappen, den fleissig über die Blätter kratzenden Füllern und ihren ernsten Mienen. Nur hin und wieder huschte ein Blick zu den Frauen, die ein weiteres Mal auf das Ende ihrer Ausbildung anstiessen und dabei laut lachten.

Ich wandte mich Gerry zu. Mit einem Lächeln im Gesicht beobachtete er mich und lehnte sich zu mir herüber, damit ich ihn verstehen konnte. »Das Kleid steht dir ausgezeichnet!«

Ein bisschen verlegen wandte ich den Blick ab. »Danke.«

Klar, wir hatten uns auch schon früher Komplimente gemacht, doch das war schon so lange her, dass ich es nicht mehr gewohnt war.

Ich warf einen kurzen Blick in die Karte, schlug sie aber gleich wieder zu. Gerry hob eine Augenbraue. »Ich weiss, was ich nehme«, erklärte ich.

Ein Grinsen huschte über sein Gesicht. »Die Geniesserin kennt die Speisekarte schon auswendig.« Mit einem letzten Zwinkern wandte er sich von mir ab und der Karte zu.

»Nicht ganz.« Es war eine glatte Lüge. Nachdem ich das Bistro entdeckt hatte, hatten mich meine Füsse immer mal wieder hierhergetragen. Ich mochte die Atmosphäre, das Essen und den köstlichen Wein. Ausserdem wurde man hier noch richtig bedient. Aber das wollte ich Gerry nicht erzählen. Niemand sollte wissen, wie viel ich hier eigentlich ass – genoss. Was in Island geschah, blieb in Island, das hatte ich mir vorgenommen.

Gerry legte die Karte zur Seite, rutschte ein wenig näher an den Tisch und sah mich verschwörerisch an. »Such du dir was für mich aus.«

Ich blinzelte verwirrt.

Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Bestimmt hast du schon alle Gerichte probiert. Also kannst du mir bestimmt etwas empfehlen.«

Es stimmte, die Karte kannte ich inzwischen auswendig. Das Bistro verdiente sich ein goldenes Näschen an mir, seitdem ich es entdeckt hatte. Hier herrschte immer emsiges Treiben, verbunden mit der Herzlichkeit der Isländer. Ich konnte meine Gedanken schweifen lassen, mich auf meine Arbeit konzentrieren oder ganz einfach in guter Gesellschaft essen gehen.

Ich schmunzelte. »Der Burger ist lecker.«

Lachend lehnte er sich zurück. »Du bist unglaublich. Da machst du dich so hübsch, um dann in einem überfüllten Lokal Burger essen zu gehen. Zu Hause gehe ich im Jogginganzug zu McDonalds.«

»Wenn du den Burger hier isst, wirst du nie mehr in einen McDonalds gehen«, konterte ich.

Er grinste breit. »Danke für die Warnung. Ich will zu Hause noch Fastfood essen können. Alternativen?«

»Keine.«

Erschrocken riss er die Augen auf und sah dabei so witzig aus, dass ich lachen musste. »Die Pasta ist auch gut, ganz besonders mit dem selbst gemachten Pesto Rosso mit Thymian. Oder ein Clubsandwich.«

Als Alfred wiederkam, ein paar nette Worte mit mir wechselte und dann unsere Bestellungen aufnahm, spürte ich Gerrys nachdenklichen Blick auf mir ruhen. Nachdem der Kellner um die Ecke gehuscht war, wagte ich es, ihn aufzufangen.

Ich liess ein leichtes Lächeln zu. »Ich habe ein paar Brocken Isländisch gelernt.«

»Das habe ich gehört.« Gerry spielte mit seiner Serviette. Als der Kellner uns zwei Weingläser brachte, sah mich mein Freund mit einer Mischung aus Unglauben und Lachen an. »Wein zu Sandwich und Pasta?«

»Nur ein bisschen Geduld, diesen Satz wirst du noch bereuen!« Schmunzelnd wartete ich ab, bis Alfred uns je ein Glas einschenkte und sich entfernte. »Woher weisst du, was ich nehme?«

»Leandra, ich kenne dich doch.«

Für einen Moment erstarrte ich. Meinen vollen Namen hatte ich schon seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gehört. Eigentlich war Gerry der Einzige, der mich so nannte. Den Grund dafür hatte er mir nie verraten und wahrscheinlich würde er dieses Geheimnis mit in sein Grab nehmen.

Die Ladys neben uns lachten über einen Witz, eine kreischte laut durch den Raum, doch niemand störte sich daran. Wem es nicht passte, der konnte ja gehen.

Gerrys Blick fing meinen auf, während er das Weinglas zwischen seinen Fingern drehte. »Ich finde es unglaublich, dass ich dir über den Weg gestolpert bin.« Leicht schüttelte er den Kopf, bevor er mit gesenkter Stimme fortfuhr. »Heute Nachmittag dachte ich wirklich, ich hätte etwas Falsches gesagt. Du warst so plötzlich verschwunden.«

»Mach dir keine Gedanken darüber.« Ich wischte seine Sorgen mit der Hand weg. »Ich hatte wirklich noch einiges zu tun, bevor alle Läden schlossen.«

Er nickte, zögerte aber mit seinen nächsten Worten, bis er sich ein Herz fasste. »Für mich fühlt sich das zwischen uns schon wieder so unglaublich vertraut an, dass ich vergesse, wie viel Zeit seit unserem letzten richtigen Gespräch vergangen ist. Falls also etwas nicht mehr in Ordnung ist, wenn ich dir zu weit gehe oder zu schnell, dann sag es mir bitte.«

Dass Gerry so unsicher sein konnte, passte irgendwie nicht zu meinem Bild von ihm. Immer wirkte er so selbstbewusst, ich wäre nicht im Traum auf den Gedanken gekommen, dass auch er manchmal seine eigenen Worte und Taten hinterfragte.

»Ist doch kein Problem«, versuchte ich, ihn zu beruhigen. »Ich bin nicht auf den Mund gefallen. Ich werde mich wehren, wenn du es zu bunt treibst.«

Aus dem Lächeln wurde ein sanftes Strahlen. »Ich musste dir einfach schreiben, immerhin bist du meine beste Freundin.« Er hob den Blick, sodass er mich von unten her anblickte.

Die dir nach dem Vorfall vor drei Jahren ziemlich egal war, fügte ich in Gedanken hinzu. Ich atmete tief ein. Dabei zitterte mein Brustkorb leicht und mit ihm die Luft. Ich hoffte, dass Gerry es nicht bemerkte. Tiefsinnige Gespräche lagen mir wohl nicht. »Du hast meine Nummer noch.«

»Ich kann sie auswendig.«

Verwirrt schluckte ich. Zwischen meinen Schulterblättern begann es, ganz leicht zu kribbeln, aber ich registrierte es nur am Rande. Dass er meine Nummer nach all der Zeit noch kannte …

Es war nicht gut, über unsere Vergangenheit zu sprechen, wenn wir einander erst wieder vertrauen mussten. »Wie läuft es bei der Arbeit?«, lenkte ich deshalb vom Thema ab.

Auf Gerrys Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab, und er bedachte mich mit einem langen Blick, doch ich ignorierte beides. Ich ahnte, dass er sich gern weiter in die Zeit unseres Zerwürfnisses vorgewagt hätte. Noch war ich nicht so weit, würde es vielleicht nie sein.